In 20 Jahren, träumte Wirtschaftsminister Altmaier auf dem Digitalgipfel Anfang dieser Woche, wird er abends im Sessel sitzend seinen Hausroboter
ein Bier holen schicken. Die geschätzt 85 Prozent Männer im großen Saal der Nürnberger Messe lachten. Wenn ihre Frauen keinen Bock haben, ihnen ein Bierchen zu bringen, ist so ein Roboter ein schöner Ausblick in die Zukunft. Dieses Jahr widmete sich der Gipfel der „künstlichen Intelligenz“.

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Anke Domscheit-Berg, DIE LINKE: Künstliche Intelligenz muss dem Gemeinwohl dienen

Künstliche Intelligenz (KI) kann helfen, Krebserkrankungen schneller zu diagnostizieren oder die Zahl von Verkehrsopfern stark zu reduzieren. Sie kann aber auch in autonomen Waffensystemen oder zur Manipulation von Wahlen und Meinungen eingesetzt werden. Die Linksfraktion fordert den friedlichen Einsatz von KI und eine Ächtung autonomer Waffensysteme, klare Regeln, um staatlichen Missbrauch und Diskriminierung zu verhindern und einen Fonds für soziale Innovationen, die den Menschen dienen – für KI Anwendungen im Bereich der Bildung, Gesundheit, Umwelt, Mobilität und Nachhaltigkeit.

Heute wurde im Bundestag über eine Änderung des Grundgesetzes abgestimmt. Die Grundgesetzänderung wird die Finanzierung digitaler Bildung durch den Bund ermöglichen. Mit einer großen Mehrheit von 578 Ja-Stimmen (87 Nein-Stimmen, 3 Enthaltungen) wurde diese Grundgesetzänderung angenommen. Mit Verwunderung nahm ich die Abstimmung der CDU-Abgeordneten Dr. Dietlind Tiemann aus meinem Wahlkreis zur Kenntnis.

Es schockt mich sehr, dass neben der AfD auch 4 CDU-Abgeordnete, darunter Dr. Dietlind Tiemann, direkt gewählt in meinem Wahlkreis, gegen die Aufhebung des Kooperationsverbots stimmten. Dr. Tiemanns Schwerpunkt ist immerhin Bildung, sie ist sogar Mitglied der Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“. Es ist mir ein absolutes Rätsel, wie man gerade als Bildungspolitikerin dagegen sein kann, dass der Bund Gelder für Bildung zuschießen darf, damit wir unsere Rückstände bei digitaler Bildung endlich aufholen können. Bisher haben Kinder in den reicheren Ländern und Kommunen Glück und alle anderen haben Pech. Das darf nicht sein! Zumal Brandenburg zu den ärmeren Bundesländern gehört und Brandenburg an der Havel, wo Tiemann Oberbürgermeisterin war, zu den 3 Städten mit der höchsten Kinderarmutsquote in Brandenburg. Die Schulen und Kinder in solchen Bundesländern  und Städten profitieren potenziell am meisten vom Geld des Bundes. Die 5 Milliarden € in 5 Jahren können aber nur fließen, wenn diese Grundgesetzänderung kommt. Wer also gegen die Änderung stimmt, will unsere Schulen in der Kreidezeit halten und Kindern ihre Bildungschancen nehmen. Zum Glück hat bei der großen Mehrheit ihre Stimme keine Rolle gespielt.

Der DigitalPakt Schule, der Anfang 2019 in Kraft treten soll, und 5 Milliarden € für digitale Bildung bereitstellen soll, muss noch vom Bundesrat verabschiedet werden.

Anke Domscheit-Berg, DIE LINKE: Wir fordern ein Recht auf Verschlüsselung

Der Schutz der Privatsphäre ist sehr wichtig. Wir fordern ein Recht auf Verschlüsselung und die Möglichkeit, mit Behörden verschlüsselt kommunizieren zu können. Staatliches Handeln darf allgemeine IT Sicherheit niemals gefährden, daher fordern wir, dass alle den Behörden bekannten Sicherheitslücken gemeldet werden müssen, um sie zu schließen. Ihre Geheimhaltung zu Überwachungszwecken gehört verboten.

Anke Domscheit-Berg, DIE LINKE: Für ein Ende der Wartemarken, Funklöcher und Tafelkreide!

Der Umsetzungsstrategie zur Digitalen Agenda fehlt ein roter Faden, eine klare Gemeinwohlorientierung ebenso wie wichtige Inhalte, z.B. Netzneutralität, Open Access oder Angaben zur Governance. Was an Inhalten fehlt, wird durch Schlagwörter und Allgemeinplätze ersetzt. Wie in früheren GroKo Legislaturen werden immer neue Ziele verkündet, aber stets verfehlt, so bleiben wir das Land der Wartemarken, Funklöcher und Tafelkreide.

Foto: Jeanette Tittel, https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/legalcode

Seit fast 20 Jahren finden immer am 25. November Aktionen statt, um auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen. Seinen Ursprung hat dieser „Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen“ in der Dominikanischen Republik. Am 25. November 1960 wurden die drei Schwestern Mirabal wegen ihrer politischen Aktivitäten gegen die Diktatur nach monatelanger Folter getötet.

Auch heute kämpfen wir gegen Gewalt, die Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen begegnet, im privaten Raum, bei der Arbeit oder auch im Internet. Im vergangenen Jahr wurden 147 Frauen von ihrem (Ex-)Partner getötet, 224 Frauen überlebten solche Tötungsversuche. Jeden Tag versucht also ein Mann, seine (Ex-)Partnerin zu töten, alle zweieinhalb Tage erreicht er sein tödliches Ziel. In den Medien werden diese Morde dann meist Tatsachen verdrehend als Beziehungsdrama bezeichnet.

Im Land Brandenburg lag die Zahl der gemeldeten Fälle von häuslicher Gewalt im Jahr 2017 bei 4254, bundesweit wurden 140.000 Menschen Opfer häuslicher Gewalt, 82 Prozent waren Frauen. Es gibt in Deutschland zu wenig Plätze in Frauenhäusern, auch das Frauenhaus in Brandenburg an der Havel, kann kaum noch Frauen (und Kinder) aufnehmen. Über die Ausfinanzierung müssen sich dringend alle politischen Ebenen einigen.

Auch wenn Gewalt gegen Frauen am häufigsten im privaten Raum stattfindet und nicht, wie oft angenommen, auf dunkler Straße und durch Fremde, gibt es sichere Räume praktisch nicht, was die Bewegungsfreiheit von Frauen einschränkt, denn fast jede meidet bestimmte Orte, weil sie sie für Frauen gefährlich findet. Angesichts vielfältiger Kleidungs- und Verhaltenstipps für Frauen muss jedoch deutlich gesagt werden: verantwortlich für Gewalt sind Täter, nicht Opfer.

Mich schockiert auch, wie wenig ernst Gewalt gegen Frauen im Internet genommen wird. Die Polizei kennt sich z. B. nur äußerst selten mit den Möglichkeiten für digitales Stalking durch unsichtbare Apps auf dem Handy aus. Wenn Frauen aber dadurch jederzeit geortet werden können, steigt ihr Risiko, Opfer physischer Gewalt zu werden. Auch mit Beleidigungen bis hin zur Androhung von Vergewaltigung, Misshandlungen und Mord  werden Frauen zunehmend im Netz konfrontiert. Auch ich habe Hassnachrichten erhalten, wurde beleidigt und bedroht. Ich habe manches bei der Polizei angezeigt, aber noch nie endete ein Fall vor Gericht. Polizei und Justiz fehlen die fachliche Kompetenz und die personellen Kapazitäten, um sich angemessen um diese Rechtsbrüche zu kümmern. Vielen fehlt selbst das grundlegendste Verständnis. Das voriges Jahr in Kraft getretene Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) bringt hier nur wenig Abhilfe. Es führt bestenfalls zur Löschung von Hassnachrichten, aber nicht zur Strafverfolgung. Und die Entscheidung, ob überhaupt gelöscht wird, liegt im Ermessen von Großkonzernen wie Facebook oder Twitter. Hassnachrichten über Messengerdienste sind überhaupt nicht vom NetzDG erfasst.

Digitale Gewalt ist jedoch mehr als Hassnachrichten, dazu zählt auch das Veröffentlichen persönlicher Informationen im Netz, wie Adresse oder Telefonnummer, Identitätsmissbrauch z. B. durch Anlegen gefälschter Profile auf Pornoseiten, oder der Versand intimer Fotos an den Arbeitgeber. Solche Taten wirken in das Leben der Betroffenen hinein. Die Bundesregierung bleibt jedoch weitgehend untätig, was die Untersuchung dieser Problematik und vor allem ihre Bekämpfung angeht, sie lässt die Opfer allein.

In einer Kleinen Anfrage zum Thema „Digitale Gewalt gegen Frauen“ (Drucksache 19/5743) fordere ich daher von der Bundesregierung Fakten und Informationen zu konkreten Maßnahmen, wie sie das Ausmaß digitaler Gewalt erfasst und wie sie gegen digitale Gewalt vorgeht. Zu beidem hat sie sich mit Ratifizierung der Istanbul Konvention verpflichtet.  Das Internet muss ein Raum sein, in dem sich Menschen frei bewegen können, ohne Angst vor jedweder Form von Gewalt. Staatliche Behörden müssen das Thema endlich ernst nehmen, Polizist*innen und Strafverfolgungsbeamte weiterbilden und eine zeitgemäße IT-Ausstattung erhalten. Es wird Zeit, dass die Polizei bei Fällen digitaler Gewalt konsequent Ermittlungen aufnimmt und die Justiz Recht auch durchsetzt. Online-Aktionen wie #metoo oder #keinemehr bleiben wichtig, um Aufmerksamkeit auf das Ausmaß digitaler Gewalt zu lenken. Als Feministin, Netzaktivistin und als persönlich Betroffene, ist mir das Thema besonders wichtig, ich bin deshalb sehr gespannt auf die Antworten der Regierung.

Update:

Ein Mobilfunkmast

Am 16. November 2018 hat die Bundesnetzagentur den finalen Entwurf für die Vergabebedingungen und Auktionsregeln für die 5G-Frequenzauktion vorgelegt. Der Beirat der Bundesnetzagentur, dem ich als Mitglied des Bundestages angehöre, wird sie letztmalig am 26. November beraten, Veränderungen werden dann jedoch nicht mehr möglich sein. In der 1. Hälfte 2019 sollen Frequenzblöcke im Bereich von 2 GHz und 3,6 GHz für den Aufbau eines 5G-Mobilfunknetzes verwendet werden. Firmen, die Frequenzen ersteigern, werden verpflichtet, bis zu bestimmten Stichtagen Versorgungsauflagen zu erfüllen. Ersteigerte Frequenzen können bis zum 31. Dezember 2040 durch die Firmen genutzt werden. Weiterlesen

Die Energieproduktion ist einer der drei wichtigsten Bausteine der dritten industriellen Revolution, die sich gerade entfaltet. Die Art, wie sich die Kommunikationsrevolution durch das Internet, die logistischen Möglichkeiten der Datennetze und die Energiegewinnung ausgestalten, wird maßgeblich darüber entscheiden, welche Rolle ein Standort künftig spielen wird. Ein wichtiger Faktor ist Dezentralisierung.

Denn so, wie mit dem Internet der Dinge die Anwendung vernetzter Systeme dezentralisiert wird, muss überall dort, wo solche Systeme eingesetzt werden, nicht nur eine Anbindung ans Internet erfolgen können, sondern auch Energie verfügbar sein. Auch beim Thema Resilienz spielt eben jene Dezentralität eine wichtige Rolle, der Ausfall kleinerer Einheiten ist längst nicht so folgenschwer wie der Ausfall eines gigantischen Systems.

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Am Montag fand in Potsdam die Klausur der Linksfraktion im Brandenburgischen Landtag zum Thema Digitalisierung statt, an der ich als netzpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion teilgenommen habe. Einen halben Tag lang haben wir uns dort darüber ausgetauscht, was Digitalisierung von links bedeutet und vor welchen Chancen, Aufgaben und Herausforderungen ein Flächenland wie Brandenburg steht.  Ich habe meine Vorstellungen einer Digitalisierung dazu beigetragen, die sich dem Prinzip der Teilhabe und Transparenz verpflichtet.

Schon einmal, vor etwas weniger als 30 Jahren, gab es im Leben der Bürger*innen Brandenburgs eine dramatische Veränderung. Mit der Wende und der Wiedervereinigung fielen in manchen Regionen ganze Industrien weg – oder fast weg (z.B. die Chemieindustrie in Premnitz) und wurden etliche Berufe obsolet, waren häufig Berufserfahrungen und Qualifikationen aus der DDR entwertet. Auch wenn beide Umbrüche, die Wendezeit und die anstehende digitale Revolution, von ihrer Natur her grundverschieden sind, haben sie doch gemeinsam, dass schnelle und umfassende Veränderungen häufig mit Unsicherheit über die Zukunft verbunden sind und daher auch Angst erzeugen und dass diese Angst um die eigene Existenz Menschen in die Arme von Demagogen treiben kann, deren Ziel die Spaltung und Ausgrenzung ist, nicht aber die Solidarität und die Förderung des Gemeinwohls. Es sollte daher Aufgabe der Linken sein, Zukunftsängste abzubauen und sich dafür einzusetzen, dass die digitale Revolution ohne soziale Härten abläuft, wie wir sie nach der Wiedervereinigung im Osten erlebt haben.

Mit der Studie „Arbeit 4.0 in Brandenburg“ hat die Landesregierung ergründet, was Digitalisierung konkret für Betriebe im Land bedeuten kann und was dies für die Beschäftigten heißen wird. Auf der Basis von 1050 befragten Unternehmen zeichnet sich ein sehr differenziertes Bild, bei dem in den nächsten Jahren sowohl Arbeitsplätze wegfallen werden als auch neue geschaffen werden. Zumindest in den nächsten Jahren rechnen die Brandenburger Unternehmen nicht mit großen Arbeitsplatzverlusten – langfristig kann das natürlich ganz anders aussehen und Politik muss sich um beides kümmern, um mittelfristige und um langfristige Herausforderungen. Zu den kurz- und mittelfristigen Herausforderungen gehört, dass ohne Frage ein hoher Anteil an Arbeitsplätzen in der einen oder anderen Form von der Digitalisierung betroffen ist oder betroffen sein wird und das dies in den allermeisten Fällen bedeutet, dass sich die Qualifikationsprofile verändern, also die Angebote und Rahmenbedingungen für Weiterbildung und Qualifizierung deutlich erweitert werden müssen.

In Kürze soll eine Langfassung der Studie veröffentlicht werden, die weitere Detailinformationen über den Stand der Digitalisierung in der brandenburgischen Wirtschaft enthält. In der Klausur kam auch die Digitalisierungsstrategie der Landesregierung zur Diskussion, die im Dezember vom Kabinett veröffentlicht wird. Mehr als 200 Maßnahmen aus sieben Handlungsfeldern wird sie voraussichtlich enthalten. Ich habe die Klausur genutzt, um meine eigenen Vorstellungen zu vermitteln, einen starken Fokus auf das Thema Bildung – von beruflicher Bildung bis zur Schulbildung, die Notwendigkeit guter online Angebote für Verwaltungsdienstleistungen – inklusive Behördenbus, der wöchentlich Dörfer und Kleinstädte anfährt, wie man das von Bäcker- und Fleischerbussen kennt. Viele Fahrten in weit entfernte Behörden sollten überflüssig werden, weil man die eigenen Anliegen einfach online oder über den Behördenbus erledigen kann. Digitalisierung muss dem Gemeinwohl dienen, und bei bürgerfreundlichen Diensten liegt der Nutzen auf der Hand. Gleiches gilt für innovative Gesundheitskonzepte, wie Schwester Agnes Modelle, bei denen Gemeindeschwestern (oder -pfleger) Ärzte im ländlichen Raum entlasten und über mobile Geräte direkt beim Hausbesuch Gesundheitsdaten erheben und über Ärzte analysieren lassen können. Vielen Patienten kann das Wege und Wartezeiten in Arztpraxen ersparen und gleichzeitig sicherstellen, dass nötige Gesundheitsleistungen auch rechtzeitig wahrgenommen werden.

Alles das braucht natürlich eine gute und flächendeckende Infrastruktur, für die in erster Linie – aber nicht nur – der Bund zuständig ist. Als Beiratsmitglied der Bundesnetzagentur setze ich mich aktuell sehr dafür ein, dass die neue Generation Mobilfunknetz (5G) auch den ländlichen Raum schnell und flächendeckend erreicht und Regulierung dafür sorgt, dass nicht nur ein Netz für Reiche dabei herauskommt. Funklöcher und langsames Internet gehören nicht in eine digitale Gesellschaft.

Kurz gefaßt, kann man linke Digitalisierungspolitik immer wieder daran festmachen, dass sie dem Gemeinwohl dient bzw. dienen muss. Das bedeutet Teilhabe statt Ausgrenzung, es bedeutet Einklang mit Datenschutz und nicht Überwachung von Bürgerinnen und Bürgern, es bedeutet Offenheit und Transparenz – zum Beispiel Offenheit von Verwaltungshandeln (Open Government), Förderungen offener Software (Open Source Software) und auch offene Lehr- und Lernmittel (Open Educational Resources).

Es freut mich, dass die Landesregierung die Öffentlichkeit an der Entwicklung der Digitalisierungsstrategie beteiligt hat und dass auch mein Feedback willkommen war. Besonders freut mich die Ankündigung, dass es keine Strategie mit hohlen Phrasen werden soll, sondern eine Strategie, die sehr konkrete Maßnahmen enthält, also schon Elemente ihrer Umsetzung. Nur so kann man Vertrauen auf-, Ängste und Unsicherheiten jedoch abbauen. Ich bin sehr gespannt auf das Ergebnis, auch wenn völlig klar ist, dass im Themenfeld Digitalisierung jede Strategie auch ständig weiterentwickelt werden muss.

Ich an meinem Schreibtisch im Wohnheim – hier schrieb ich 1989 mein Tagebuch

Ich an meinem Schreibtisch im Wohnheim – hier schrieb ich 1989 mein Tagebuch

Foto von mir an meinem Schreibtisch im Wohnheim – hier schrieb ich 1989 mein Tagebuch

Jedes Jahr in den ersten Tagen des Novembers erinnere ich mich an den Wendeherbst 1989. Ich war damals Studentin in der DDR und sehr engagiert in der Bürgerbewegung. Wie seit meinem 13. Lebensjahr schrieb ich auch damals Tagebuch und habe meine Eindrücke, Ängste, Hoffnungen und Aktivitäten dort festgehalten. Im Oktober schrieb ich davon, dass ich blutige Auseinandersetzungen fürchte und staatliche Übergriffe, wie wir sie vom Ceaucescu Regime in Rumänien kannten, davon, dass ich ausgereiste Freunde und Verwandte wie meinen Bruder vielleicht niemals wieder sehen werde. Im November 89 schrieb ich über die größte Demo, die es in der DDR je gab, mit einer Million Teilnehmenden, über meinen Freund, der in Halle im Gefängnis saß, Menschen, die mir dabei halfen, ihn zu unterstützen und die mir erschütternde Dinge erzählten, die ihnen angetan worden waren. Ich schrieb auch am 9. November selbst, als ich in meinem Studentenwohnheim im sächsischen Schlema im Radio die Nachrichten von der Maueröffnung hörte und sogar aufzeichnete, weil ich meinen Ohren nicht traute. Ich beschrieb meine ambivalenten Gefühle dabei, weil ich mit dieser Nachricht meinen Glauben an einen „Dritten Weg“ – einen demokratischen Sozialismus – verloren hatte. Wenige Tage später aber, schrieb ich euphorisch darüber, wie mein erster Besuch in Westberlin ablief, wie eigentlich gänzlich unbeschreiblich die Gefühle seinerzeit waren, wie ich mit meiner Mutter auf der Mauer am Brandenburger Tor stand und was das für mich bedeutete.

Mein Tagebuch, 04.10.1989

Mein Tagebuch, 04.10.1989

Jedes Jahr im Herbst lese ich meine alten Texte, erinnere mich, als wäre es gestern, staune wieder darüber, wie sich die Dinge damals rasend schnell und überraschend gewaltarm entwickelten – es hätte ja auch ganz anders ablaufen können. 29 Jahre ist das nun alles her und ich finde es unvorstellbar, dass das 6 Jahre länger her ist, als der 2. Weltkrieg für meine Eltern zum Zeitpunkt meiner Geburt. Für mich war der Mauerfall das einschneidendste Ereignis meines Lebens, seitdem glaube ich nicht mehr daran, dass große gesellschaftliche Veränderungen unmöglich sind. Ich halte auch das Unmöglichste für erreichbar, denn damals war es auch so. Niemand, wirklich niemand, konnte sich den Fall der Mauer damals vorstellen oder damit rechnen. So wurde der Mauerfall für mich zur Energiequelle, die mir Kraft und Optimismus gibt, für meine politischen Visionen zu kämpfen, auch für die, die viele heute noch als „unmöglich“ bezeichnen, wie das bedingungslose Grundeinkommen, oder ein gemeinwohlorientiertes Gesellschaftssystem, das ich „Commonismus“ nenne, denn ich halte alles für machbar, auch die Überwindung einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Ich bin nicht naiv und weiß, dass ich viele solcher großen Ziele, vielleicht sogar die meisten, nicht erleben werde, aber ich weiß auch, dass man nie weiß, welches der „unmöglichen“ Ziele vielleicht doch erreichbar ist und das ist mir Grund genug, für jedes einzelne dieser Ziele mit aller Kraft zu kämpfen. So bin ich der Wende und uns allen, die wir für diese Veränderung damals auf die Straße gegangen sind – trotz Angst vor Gewalt und Konsequenzen – dankbar, denn ohne diese Erfahrung hätte ich heute nicht die Kraft für meine politische Arbeit.

Wer sich für die Zeitdokumente von damals interessiert, der kann meine Tagebucheinträge heute im Netz nachlesen, ebenso wie die zahlreichen Dokumente aus der Wendezeit, Eingaben an Ministerien und die Antworten darauf, meine Stasiakte oder Fotos aus jenem Herbst. Ich habe sie öffentlich gemacht, weil sich so die Zeit besser nachempfinden läßt und weil ich glaube, dass wir heute noch viel aus diesem Umbruch lernen können.

Meine Tagebucheinträge aus der Wendezeit (auf meinem Privat-Blog):