Zahlreiche Befugniserweiterungen für die Sicherheitsbehörden trugen in den vergangenen Jahren zu einer starken Ausweitung der Überwachungstätigkeit bei. Dabei zeigen mehrere Urteile (Änderungen Verfassungsschutzgesetz, BND-Gesetz und Änderung zur Bestandsdatenauskunft) aus Karlsruhe eindeutig: das Ausmaß des Reformbedarfs im Bereich der Sicherheitsbehörden ist dramatisch – die Vorhaben der Bundesregierung entsprechen keineswegs den hohen verfassungsrechtlichen Vorgaben.
In meiner Schriftlichen Frage wollte ich von der Bundesregierung wissen, was ihre Pläne sind, eine “Überwachungsgesamtrechnung”, die sowohl vom BVerfG als auch vom Bundesdatenschutzbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Kelber selbst mehrfach gefordert wurden, zukünftig durchzuführen und sie dann auch zu veröffentlichen. Die Antwort aus dem Bundesinnenministerium ist ein Schlag ins Gesicht der Demokratie.
Wie das BVerfG bereits urteilte: “Es gehöre zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland, dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf” (BVerfGE 125, 260, Randnummer 218). Diese Entscheidung lässt den Schluss zu, dass der Staat vor der Einführung neuer Maßnahmen, die zu mehr Überwachung führen, einen Überblick über alle bereits geltenden Maßnahmen braucht.
Diese Evaluationen müssen jedoch transparent für jeden einsehbar sein und wissenschaftlich unabhängig begleitet werden, statt heimlich im Hinterzimmer – fernab jeglicher Öffentlichkeit.
Doch das sieht die Bundesregierung scheinbar anders! In seiner Antwort führt das Bundesinnenministerium (BMI) aus: „Die Bundesregierung trägt den Anforderungen des Gerichts an die Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen insgesamt Rechnung.“ Damit verhöhnt das BMI die höchstrichterliche Rechtssprechung in Karlsruhe, die mehrfach Überwachungsgesetze der Bundesregierung kassiert hat.
Laut Antwortschreiben findet eine Analyse der Regelungserfordernisse bereits im Rahmen der Arbeit an neuen Gesetzgebungsvorhaben statt. Im Klartext: für die Bundesregierung ist es ausreichend, wenn diejenigen, die neue Überwachungsgesetze verfassen sollen, auch darüber entscheiden, ob die kumulierte Überwachung möglicherweise Grenzen überschreitet. Das ist völlig inakzeptabel, denn man fragt ja auch nicht den Frosch, ob man den Teich austrocknen soll. Es braucht endlich einen vollumfänglichen Überblick über die Notwendigkeit und Effektivität staatlicher Grundrechtseingriffe, die Polizei und Geheimdienste tagtäglich durchführen. Und zwar bevor neue Überwachungsgesetze beschlossen werden. Dazu ist ein Moratorium für neue Überwachungsgesetze unabdingbar.
Es obliegt nicht der Bundesregierung allein, über die Nebenwirkungen und Akzeptanz von Überwachungsgesetzen zu entscheiden – das Parlament in seiner Gesamtheit hat einen Anspruch darauf. Die bisherige Praxis, nur einzelne Gremien im Geheimen zu informieren, ist unzureichend – die vereinzelten internen Evaluierungspflichten reichen nicht aus, die Rechtslage ist zerfasert – und schafft dabei weniger, statt mehr Transparenz in der Bevölkerung. Die Behauptung, man evaluiere ja existierende Gesetze ist außerdem frech, da die Bundesregierung wiederholt selbst in Gesetzen vorgeschriebene Evaluationen einfach nicht vornimmt. So wurde das IT-Sicherheitsgesetz 2.0 auf den parlamentarischen Weg gebracht, ohne dass sein Vorgängergesetz evaluiert worden war. Damit bleibt auch intransparent, was die Überwachung überhaupt bringt und ob die Grundrechtseingriffe durch den Nutzen gerechtfertigt werden können. Dass dieser Nachweis bei Überwachungsgesetzen zu erbringen ist, hat jedoch auch der Europäische Gerichtshof im letzten Jahr eingefordert. Diese Bundesregierung setzt sich einfach über bestehende Rechtsprechung hinweg.