Vor 4 Jahren wurde ich bei der friedlichen Aktion #Die Toten kommen, organisiert vom Zentrum für Politische Schönheit, Opfer von Polizeigewalt. Aber nicht die Polizisten wurden deshalb angeklagt, sondern ich fand mich vor Gericht wieder.
Mehrere Polizisten unterstellten mir Körperverletzungen, die ich nicht begangen hatte. Trotz vieler entlastender Beweise wurde ich in erster Instanz verurteilt.

Da ich aber unschuldig bin, ging ich in Berufung. Am ersten Prozesstag der Berufung, am 17.05.2019, habe ich vor Gericht die nachstehende Erklärung abgegeben und die angebotene Einstellung des Verfahrens bei Zahlung von 600€ abgelehnt.

Meine Stellungnahme vor dem Berliner Landgericht im Wortlaut.

Einlassung zur Gerichtsverhandlung wegen des Vorwurfs der „Körperverletzung“ bei der Demonstration „Die Toten Kommen“ am 21.06.2015

Ich möchte vorab schicken, dass es mir Leid tut, dass sich ein Landgericht mit meinem Fall befassen muss, denn im Vergleich zu dem, was hier vermutlich sonst verhandelt wird, dürfte es sich um eine Lappalie handeln, die unverhältnismäßig viel Aufwand verursacht.

Aber für mich ist es keine Lappalie, wenn ich wegen Körperverletzung gegen Polizisten verurteilt werde, obwohl ich niemanden verletzt habe, sondern selbst Opfer von Polizeigewalt geworden war.

Für mich ist es keine Lappalie, wenn ich mitten im Wahlkampf zur Bundestagswahl 2017 in der Bild Zeitung lese, dass ich Polizisten misshandelt habe oder ein politischer Gegner im Lokalfernsehen davon redet, dass ich eine Kandidatin sei, die Polizisten verprügelt.

Fotocredit: Christina Palitzsch

Für mich ist es keine Lappalie, wenn öffentlich meine Immunität als Abgeordnete aufgehoben wird und in sozialen Medien immer wieder von mir als Gewalttäterin die Rede ist und man meinen „Fall“ dafür verwendet, Linke Politik zu diskreditieren.

Ich bin in meiner Ehre verletzt, war in meiner politischen Arbeit und im Wahlkampf behindert und auch als selbstständige Publizistin und Gründerin eines Start Ups erlebte ich dieses Verfahren als stark geschäftsschädigend, denn wer will Geschäfte machen mit jemand, von der man lesen musste, dass sie Polizisten misshandelt?

Für mich war auch der erste Prozess eine ziemliche Erschütterung, denn ich hatte volles Vertrauen in den Rechtsstaat, war recht ruhig, denn glücklicherweise hatte ich zahlreiche entlastende Beweise. Ich rechnete daher fest mit einem Freispruch. Aber dann musste ich erleben, wie ein Polizist in aller Öffentlichkeit mehrfach dreist log, dass weder meine entlastenden Beweise noch die mit Fotos und Videos nachgewiesene Polizeigewalt bei der Staatsanwaltschaft zu irgendeiner Neubewertung führten und dass am Ende von den meisten Anschuldigungen zwar nur ein lächerlicher Kratzer am Zeigefinger einer Polizistin übrig blieb, den ich allerdings schon rein technisch überhaupt nicht verursacht haben kann, und von dem selbst die Polizistin sagte, dass er eine reine Lappalie sei. Der Kratzer entstand offenbar, während ich meinen Blumenstrauß festhielt, an dessen anderem Ende die Polizistin zog.

Ich habe den Strauß in der fraglichen Zeit nie losgelassen, konnte also gar nicht gleichzeitig jemand mit derselben Hand kratzen. Eine Augenzeugin sagte aus, dass ich mich friedlich verhalten habe und niemanden kratzte und dass sie die gesamte Situation sehen konnte – mit ihren Fotos, sie ist Fotografin – konnte sie selbst das beweisen. Ich legte Fotos vor, wonach sich bis zu 4 Hände gleichzeitig an meinem Blumenstrauß festhielten und die zeigten, dass es mehrere Hände gab, die dichter an der Hand der Polizistin waren, als meine und deren Finger vor allem so positioniert waren, dass das Entstehen einer Kratzwunde überhaupt möglich war. Es gibt vermutlich sogar ein Bild von dem Moment, in dem der Kratzer entstand, es ist ein Screenshot des Films der Polizei, in dem man sieht, wie die Hand eines Polizistenkollegen so auf der Hand der Polizistin liegt, dass seine Fingernägel in der Gegend ihrer Zeigefingerspitze liegen. Aber diese Beweise wurden alle ignoriert, ich wurde trotzdem verurteilt, diese Verletzung verursacht zu haben, denn irgendwie schien es von vorneherein fest zu stehen, dass ich Schuld sein muss, Beweise hin oder her.

Von keiner behaupteten Verletzung gab es irgendeinen Zeugen, der sie gesehen hatte und bestätigen konnte. Es gab keinen Arztbericht und kein Handyfoto davon.  Es gab keine nachvollziehbare Begründung, warum ich als die gefährliche Straftäterin, als die man mich vor Gericht beschrieb, nicht einfach vor Ort festgenommen worden war, obwohl ich noch stundenlang auf der Reichstagswiese herumlief, während alles friedlich und still war, und man mich an meinem roten Hut meilenweit sehen konnte.

Mein Gerechtigkeitssinn konnte sich mit diesem Fehl-Urteil nicht abfinden, deshalb habe ich Rechtsmittel eingelegt, deshalb sitze ich wieder hier und mache Ihnen Arbeit. Ich sitze hier meinetwegen aber auch wegen all der anderen, die ebenfalls Opfer von Polizeigewalt wurden und am Ende als angebliche Täter vor Gericht landeten. Ich sitze hier auch wegen all der anderen, die sich friedlich an Kunstaktionen des Zentrums für Politische Schönheit beteiligten und dafür kriminalisiert wurden. Auch dazu konnte man aktuelle Beispiele in den Medien lesen, etwa wie man in Thüringen gegen das ZPS als terroristische Vereinigung ermittelte – ein Vorgang, der an Absurdität kaum zu überbieten ist.

Aus all diesen Gründen kann ich nicht anders und deshalb möchte ich auch heute erklären, wie vor 2 Jahren in der ersten Instanz, was im Sommer 2015 geschah und was meine Erinnerung an das Geschehen ist.

Am Samstag, dem 20. Juni 2015, war Weltflüchtlingstag der Vereinten Nationen, der seit 2001 begangen wird. In jenem Jahr hatte die Anzahl von Menschen auf der Flucht eine Rekordmarke seit dem 2. WK erreicht. Damals hatten 60 Millionen Menschen ihre Heimat aufgrund von Konflikten, Kriegen und Verfolgung verlassen müssen. Inzwischen sind es 68 Millionen. Davon waren 2015 nach Genfer Flüchtlingskonvention knapp 20 Millionen Menschen als Flüchtlinge registriert, heute sind es noch 5 Millionen mehr. Die meisten Menschen flohen nicht nach Europa, 85% fanden in Entwicklungsländern Zuflucht. Nur wenige kommen überhaupt nach Europa, sie suchen hier Frieden und eine Chance auf Zukunft. Aber legale Wege gibt es nicht in die EU einzureisen, um in der EU das Grundrecht auf Asyl oder Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention zu beantragen.

Für 100€ gibt es Flugtickets von der Türkei nach Deutschland, wo viele der Geflohenen z.B. aus Syrien zuerst Schutz suchten. In der Türkei werden Geflüchtete in unmenschlichen Arbeitsverhältnissen ausgebeutet, Kindern der Zugang zu Bildung verwehrt, Kranke bekommen Hilfe nur gegen Geld. Seit dem Sommer 2015 habe ich mit sehr vielen Geflüchteten gesprochen, von denen über 40 in der Zeit von 2015 bis 2016 in meinem Haus vorübergehend Obdach fanden und die mir erzählten, warum sie erst in die Türkei und dann von dort weiter geflohen sind.

Bei uns lebte für ein paar Monate auch eine syrische Familie mit 3 kleinen Mädchen. Sie stammen aus einem Dorf südlich von Idlib, aus der Region, die man ständig in der Tagesschau hört, weil dort immer noch fast täglich Bomben fallen. Auf ihren Handies zeigten sie uns Fotos, von der zerbombten Schule, dem zerbombten Kindergarten, ihrem von Bomben beschädigten Haus. Sie erzählten von Freundinnen, Spielzeug, den Granatapfelbäumen und den Katzen, die sie zurückließen. In den ersten Monaten rannten sie in Deckung, wenn sie Flugzeuggeräusche hörten. Sie besuchen heute als unbeschwerte glückliche Kinder die 2., 3. und 5. Klasse in meiner Heimatstadt Fürstenberg, sprechen akzentfrei deutsch und haben viele Freunde. Hätte ein ganz bestimmtes Gummiboot 2015 weniger Glück gehabt, wären sie heute nicht am Leben.

Ein anderer syrischer Freund erzählte mir, wie er beinahe ertrank bei der Flucht über das Meer und dass er noch heute Alpträume deshalb hat. Aber auch er wurde gerettet und hat inzwischen Wurzeln in Fürstenberg geschlagen. Eine Familie mit mehreren Kindern, die heute in Mainz lebt, war damals von der türkischen Polizei im Mittelmeer fast versenkt worden. Erst beim 5. Versuch haben sie es nach Griechenland geschafft. Wir hatten Kontakt damals, weil ihr kleiner Sohn schon in Deutschland war und meine Schwiegermutter sich um ihn kümmerte. In keiner der Nächte, wo diese Familie es auf das Wasser wagte, konnte ich schlafen. Ich sah die Tagesschau und entsetzliche Bilder von ertrunkenen Geflüchteten, darunter auch Kinder. Ich hatte Angst um diese Menschen, deren Namen, Aussehen und Schicksal ich kannte, die für mich keine Nummern waren. Sie hatten Glück und kamen an.

Aber viele andere nicht. Die meisten können sich die Kosten für die illegale Flucht gar nicht erst leisten, sie harren in Lagern mit menschenfeindlichen Lebensbedingungen ohne jede Perspektive aus. Andere verkaufen ihre Eheringe und alles, was sie haben, um den Schleppern in der Türkei einen Sitzplatz in einem hoffnungslos überfüllten Schlauchboot abzuringen. Wenn sie Pech hatten, versagte der Motor auf hoher See, kippten Wellen das Boot und waren die Schwimmwesten gefälschte Ware, ohne lebensrettende Wirkung.

Das passiert jeden Tag im Mittelmeer, im Sommer und im Winter, auch heute. Jeden Tag wird das Meer zu einem nassen Grab, in dem Geflüchtete in der Hoffnung auf ein Leben mit Zukunft jämmerlich ertrinken. Ihren Namen kennt in den meisten Fällen niemand. Männer, Frauen, Kinder, Babies – versinken in den Fluten, wenn kein rettendes Schiff in der Nähe ist, Ertrinken geht schnell, es dauert nur wenige Minuten. Nach der Missing Migrants Datenbank starben allein im Jahr 2015 über 2000 Menschen im Mittelmeer. [1]

Mit meinem Menschenbild und einer humanitären Grundeinstellung ist nicht vereinbar, dass wir jedes Jahr den Tod Tausender verzweifelter Menschen billigend in Kauf nehmen, obwohl sie bei uns ein Bleiberecht nach der Verfassung und nach der Genfer Flüchtlingskonvention hätten. Unsere europäischen Grenzen, die Grenzen der EU, die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden ist, sind zur tödlichsten Grenze der ganzen Welt geworden. Diese Praxis ist schlicht menschenverachtend.

Fotocredit: Nick Jaussi (http://nick.jaussi.eu)

Aus diesem Grund bin ich im Sommer 2015 dem Aufruf des Zentrums für Politische Schönheit gefolgt, mich an ihrer Kunstaktion, dem „Marsch der Entschlossenen“ zu beteiligen, mit dem die Toten aus dem Mittelmeer symbolisch von der europäischen Außengrenze in das Herz Europas, mitten nach Berlin gebracht werden sollten. Das ZPS hat sich erhofft, dass wenn wir schon die verzweifelten Schreie der Lebenden nicht hören, dass wir vielleicht wenigstens die stumme Klage der Toten vernehmen können. Deshalb führte der Marsch der Entschlossenen auch in das politische Zentrum unserer Hauptstadt, Richtung Kanzleramt und Bundestag, damit wir stellvertretend für die Toten unsere Stimme erheben, so dass sie gehört werden von denen, die einen Einfluss darauf haben. Das ist für mich der Sinn einer Demokratie und der unmittelbare Zweck des Demonstrationsrechts.

Gemeinsam mit 5000 anderen Demonstranten wollte ich außerdem den an den EU-Außengrenzen Gestorbenen ihre Würde zurückgeben, ihrer wenigstens einmal öffentlich still und in unserer Mitte gedenken, ihnen einen Gedenkraum schaffen, wie wir ihn für unsere Toten auf einem Friedhof jederzeit finden können. Wenigstens temporär sollte es für die namenlosen Toten einen Ort der Trauer und des Gedenkens geben. Ihre Angehörigen erfahren nie von ihrem Schicksal, es gibt für sie kein Grab, kein gemeinsames Erweisen von Respekt, keine Rede, keine Blumen, keine Kranzniederlegung und keinen Grabstein. Wenn ihre Leichen überhaupt je an ein Ufer gespült wurden, hat man sie in Mülltüten gestopft, in Kühlkammern wochenlang übereinander gestapelt und am Ende irgendwo in einem Massengrab verscharrt. Ihrer Menschenwürde beraubt selbst im Tod.

In unserer Verfassung, die nächste Woche ihren 70. Geburtstag feiert, steht aber in Artikel 1, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Da steht nichts davon, dass nur die Würde deutscher Menschen oder von Staatsbürgern der EU unantastbar ist.

Deshalb haben mein Mann und ich im Juni 2015 beim Gärtner einen Trauer-Kranz mit roten Rosen bestellt und auf die Seidenfahnen unser Gedenken an die ertrunkenen Geflüchteten im Mittelmeer drucken lassen. Wir haben Blumensträuße gekauft, aus schmalen flachen Brettern kleine Kreuze gebaut und „Grenzen töten“ auf die Brettchen geschrieben. In einen kleinen Sack haben wir Erde aus unserem Garten eingefüllt und alles das am 21. Juni 2015 auf einem kleinen Rollwagen nach Berlin zur Demonstration mitgenommen. Für uns war das eine würdevolle Beerdigungsfeier, und so hat mein Mann seinen schwarzen Hochzeitsanzug angezogen und ich ein schwarzes Kleid und einen schwarzen Mantel darüber, ich trug wie meistens einen roten Hut. Wir zogen mit der Demonstration durch die Innenstadt Berlins, friedlich und still. Kurz vor dem Kanzleramt hielt der große Zug an, wir standen im vorderen Drittel, in der Mitte des Zuges, als sich nach einigen Reden die Menge wieder in Bewegung setzte und rechts auf die Wiese des Platz der Republik abbog.

Wir folgten dem Strom der Demonstranten. Neben uns her liefen viele Polizisten, alle in Richtung Reichstagsgebäude. Niemand von ihnen hatte uns aufgefordert, stehen zu bleiben. Noch ein ganzes Stück vom Zaun vor dem Reichstagsgebäude entfernt, blieben mein Mann und ich stehen. Wir wollten ein symbolisches Grab anlegen, als temporäre Gedenkstelle und damit den anonymen Ertrunkenen eine letzte Ehre erweisen.

Das daraufhin folgende Ausmaß völlig unbegründeter, willkürlicher Polizeigewalt hat mich völlig überrascht und schockiert. Ich hatte bis dahin persönlich keine negative Erfahrungen mit Polizisten gesammelt und war schlicht erschüttert.

Mein Mann und ich, wir wurden ohne Vorwarnung mehrfach von  Polizisten getreten und  geschubst.  Wir gingen beide zu Boden, die Brille meines Mannes flog durch die Gegend. Ich stand wieder auf, wurde erneut gestoßen und getreten – der betreffende Polizist hat das vor Gericht als Schocktechnik bezeichnet und als Selbstverteidigung, weil ich ihn ja angeblich mit Blumenstielen stechen wollte. Ich hielt dann immer wieder meinen Blumenstrauß in die Höhe. Polizisten schlugen mir mehrfach den Arm mit den Blumen runter und versuchten, mir den Blumenstrauß zu entreißen. Aber diese Blumen waren für mich zum Symbol geworden, immer noch unter tiefem emotionalen Schock stehend, weil ich eben erst ohne jeden Anlass Polizeigewalt erlebt hatte, hielt ich den immer ramponierter aussehenden kleinen gelben Strauß in die Höhe. Ich wollte meinen Strauß behalten, als Symbol für die Ehrerbietung gegenüber den Toten, für die Trauer um die Toten und gegen die Gewalt, die von der Polizei ausgeübt wurde. Ich habe sie immer wieder verzweifelt hochgehalten, selbstverständlich nicht, um jemanden damit zu verletzen oder zu behindern, sondern als klares und deutliches Zeichen  der Würde und Gewaltfreiheit.

Ich habe auch schon einen Panzer, der das KZ Ravensbrück befreit hat, in den Friedensfarben des Regenbogens eingestrickt und in die Mündung des Kanonenrohres Blumen gesteckt. In der Tradition der Flower Power Bewegung der 60er und 70er Jahre wollte ich dem Militärischen etwas zutiefst Friedliches und Harmloses entgegensetzen. Ich habe selbst einmal Angewandte Kunst studiert und setze künstlerische Methoden ein, um mit symbolischen Mitteln meinen Überzeugungen, wie in diesem Fall dem Pazifismus, Ausdruck zu verleihen. Ich bin dabei nie auf Widerstand oder Ablehnung gestoßen. Fotos von meiner Strickaktion am Ravensbrücker Panzer sind inzwischen Teil der Dauerausstellung der Gedenkstätte Ravensbrück. Ich bin ein friedliebender Mensch, der zwar für seine Überzeugungen öffentlich eintritt, auch mit originelleren Aktionen, der aber nie Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung für sich akzeptiert hat.

Ich habe als friedliche Demonstrantin in feierlicher Kleidung, weithin erkennbar an meinem roten Hut an der Demonstration „Die Toten Kommen“ teilgenommen. Ich habe dort meiner Erschütterung über die selbst erlebte und beobachtete Polizeigewalt in mehreren Interviews noch vor Ort auf der Wiese gegenüber verschiedenen Medien Ausdruck verliehen. Ich habe etwa 10 Minuten nach diesen Übergriffen um 15:53 Uhr folgenden Tweet von der Wiese getwittert: „ Polizisten haben erst hart zugegriffen, mich geschlagen, obwohl ich ‚keine Gewalt’ rief und nur Blumen in die Höhe hielt“. Mehrere Stunden später war ich auf dem Heimweg und twitterte: „liege auf einer Bahnsteigbank, warte auf die Bahn. Mein Rücken schmerzt elend, vielleicht eine Folge der Polizeischläge“. Ich habe damals überlegt, ob ich Anzeige gegen die übergriffigen Polizisten erstatte, aber ich hatte zu oft in der Zeitung gelesen, dass solche Anzeigen zu nichts führen, so dass ich das gelassen habe. Das habe ich mit vielen Opfern von Polizeigewalt gemeinsam.

Deshalb ist die Dunkelziffer riesig. Nur ein Bruchteil zeigt überhaupt an.  Es gibt nach einem Bericht im Deutschlandfunk vom März diesen Jahres jährlich etwa 2000 angezeigte Fälle von Körperverletzung im Amt, aber weniger als 3% landen überhaupt vor Gericht. Die meisten werden als unbegründet oder geringfügig von den Staatsanwaltschaften abgelehnt.[2] Polizeigewalt scheint ein nahezu straflose Straftat zu sein. Das wusste ich auch damals schon,  auch dass es eine sehr beliebte Strategie ist, Opfer einfach von Seiten der Polizei anzuzeigen und ihnen Widerstand und Körperverletzung anzudichten, so dass am Ende Aussage gegen Aussage steht und dann das Opfer verurteilt wird und nicht der Täter. Alles das wollte ich mir ersparen. Genützt hat der Selbstverzicht auf mein Recht nichts, denn im Nachhinein kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Polizisten, die am Tag nach der Demonstration in Medienberichten meine Beschreibungen von Polizeigewalt hörten, offenbar befürchteten, dass ich sie anzeige und deshalb eine vorbeugende Gegenanzeige beschlossen. Für diese Vorgehensweise finde ich keine angemessenen Worte.

Nach meinem persönlichen Erleben während der Demonstration und der nachfolgenden Aktion auf der Reichstagswiese ging jede Eskalation ausschließlich von der Polizei aus. Sowie die Polizei mit Eskalationsverhalten aufhörte, war die Menge absolut friedlich, klatschte und sang. Sie legten unbehelligt über 100 symbolische Gräber mit ihren nackten Händen an, die am Ende doch noch das beabsichtigte Ziel erreichten – einen würdigen Gedenkort in Form eines Friedhofes für die Toten im Mittelmeer im Herzen Berlins zu errichten. Die Toten waren also doch noch gekommen und ruhten symbolisch unter dem Platz, der für Deutschland die höchste politische Bedeutung trägt, sichtbar für alle Abgeordneten des Bundestages, die beim Überqueren der Wiese zumindest über symbolische Gräber und Leichen hätten gehen müssen.

Eines dieser Gräber haben auch mein Mann und ich noch angelegt, wir haben die mitgebrachte Erde aus unserem Garten zu einem kleinen Hügel aufgeschüttet, um die Wiese darunter nicht zu beschädigen und haben den mitgebrachten Trauerkranz mit roten Rosen sowie einen Blumenstrauß auf dieses Grab gelegt.

Nach den für mich schockierenden Erfahrungen während dieser friedlichen und doch so kreativen Aktion hatte es mich besonders überrascht, über ein Jahr später vom Ermittlungsverfahren gegen mich in Kenntnis gesetzt zu werden. Die Vorwürfe darin waren an Absurdität kaum zu überbieten. Ich soll u.a. einen Blumenstrauß umgedreht und mit den Blumenstielen einen Polizisten durch den Schlitz seines Helmvisirs im Gesicht verletzt haben. Ich soll ihn getreten haben und die bereits erwähnte Polizistin am Finger gekratzt haben. Nichts davon habe ich getan, weder absichtlich noch aus Versehen.

Der massive Öffentlichkeitsschaden begann schon an Tag Eins, denn bereits zur Anklage gab es eine dpa Meldung, die in vielen Medien Verbreitung fand. Eine Mitarbeiterin von RTL verlinkte eine solche Meldung und twitterte dazu: „2017 im Bundestag mit r2g?“ Andere Tweets lauteten „Qualifikation für den Bundestag: Anke Domscheit-Berg soll Polizisten angegriffen haben“. Auch über meine Nominierung als Listenkandidatin der Linken haben nach einer entsprechenden DPA Meldung viele Medien nur im Zusammenhang mit dieser Anklage berichtet, wie z.B. die Berliner Zeitung, die schreibt: „Auf Platz drei kam die Netzaktivistin Anke Domscheit-Berg, die sich an diesem Montag vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten verantworten muss. Ihr wird vorsätzliche Körperverletzung von Polizisten vorgeworfen.“

Auf RBB Online musste ich einen ganzen Artikel unter der Überschrift „Anke Domscheit-Berg wegen Körperverletzung vor Gericht“ lesen, in dessen Kurzfassung steht„Die Politaktivistin Anke Domscheit-Berg muss sich ab Montag vor Gericht verantworten. Ihr wird vorsätzliche Körperverletzung vorgeworfen, weil sie bei einer Mahnwache im vergangenen Jahr drei Polizisten angegriffen haben soll. Das alles gipfelte dann in den bereits eingangs beschriebenen, ehrabschneidenden Medienberichten nach der Verurteilung, also z.B. in der Formulierung, ich hätte Polizisten misshandelt.

Diese unzutreffenden Berichte verletzen mich zutiefst, weil sie eben nicht den Tatsachen entsprechen. Deshalb ist dieses Berufungsverfahren für mich wichtig und deshalb möchte ich noch einmal in aller Klarheit sagen: ich habe auf dieser Veranstaltung zu keinem Zeitpunkt jemanden verletzt oder getreten, geschubst oder gekratzt. Ich bin Pazifistin nicht nur in der Theorie, sondern auch im praktischen Leben. Meine Waffen sind Wörter, Blumen und Kunstaktionen, nicht Fäuste, Fingernägel oder Füße.


[1] Quelle: https://missingmigrants.iom.int/region/mediterranean

[2] Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/polizeigewalt-korpsgeist-und-mauern-des-schweigens.1005.de.html?dram:article_id=444603