Text erschienen in der Zeitschrift für sozialistische Wirtschaft und Politik für die Ausgabe: „Digitaler Sozialismus“ 11.2020
Als ich 1988 und 1989 als Studentin in der DDR Opposition engagiert war, kämpfte ich für meine Vision eines „dritten Weges“ – für einen Sozialismus, der demokratisch ist, seine Bürger:innen nicht einsperrt und in dem man Freiheitsrechte genießt. Als dann nach dem Mauerfall gefühlt übernacht die Wiedervereinigung zum Anschluss der neuen Bundesländer an die BRD und ihr kapitalistisches System führte, war für mich dieser Traum ausgeträumt. Ich hatte eine Revolution erlebt, begeistert für sie gekämpft, und dann war da nur noch Leere, nachdem für ein paar kostbare Monate alles möglich zu sein schien, auch eine neue Gesellschaftsordnung, die es noch nie gegeben hatte, die weder die Fehler des Kapitalismus noch die des real existierenden Sozialismus begehen würde: Das Beste zweier Welten – gerecht, sozial, nachhaltig und frei.
Nach der Phase großer Euphorie folgte die Desillusionierung hart und schnell mit der Erkenntnis, dass der Kapitalismus offenbar gesiegt hatte und man dagegen machtlos sei. Ich hatte meine vorstellbare Vision von einer Zukunft, die Demokratie und Sozialismus miteinander verband, verloren.
Aber dann kam das Internet und für mich änderte sich alles. Warum ich jetzt wieder Hoffnung und eine konkrete Vision von einer Alternative zum Kapitalismus habe, erklärt sich nicht auf den ersten Blick, denn erst einmal sieht es so aus, als würde alles nur noch schlimmer werden.
Digitalismus – Kapitalismus auf Stereoiden
Diese Revolution, die sich da Bahn bricht, ist größer als der Mauerfall. Weltweit verändert die Digitalisierung Machtverhältnisse auf radikale Weise. Auf den ersten Blick könnte man noch verzweifelter werden, denn der Digitalismus ist wie Kapitalismus mit Doping: Erfolgreiche Geschäftsmodelle wurden im Zeitraffer obsolet, Unternehmen mit völlig neuen Geschäftsmodellen überrumpelten nicht nur die alten Platzhirsch-Konzerne, sondern auch die Regulierer, die völlig überfordert waren und dem Entstehen globaler Machtdominanz einiger weniger Superkonzerne nichts entgegen zu setzen hatten. Noch nie in der Geschichte der Menschheit hat es derart einflussreiche, weltumspannende Monopole gegeben, Unternehmen, die wie Facebook über zweieinhalb Milliarden Nutzer:innen haben, die wie Google über das Ranking seiner Suchergebnisse einen enormen Einfluss darauf ausüben, was in der Wahrnehmung oder der Erinnerung existiert und was nicht.
Megakonzerne eroberten in wenigen Jahren alle Weltregionen, sie begannen mit einem Geschäftsfeld – wie Amazon mit dem Verkauf von Büchern, oder Google mit der Suche, um nach und nach in völlig andere Bereiche vorzudringen und dort den Wettbewerb von der Seite aufzurollen. So sehen sich inzwischen Autohersteller nicht nur in Konkurrenz zu neuen Auto-Unternehmen wie Tesla, sondern eben auch zu Google oder UBER.
Die Großen der Branche verdanken ihren Erfolg nicht nur einer aggressiven Wachstumsstrategie, sondern auch dem sogenannten Lock-in-Effekt, der sich durch den Netzwerkeffekt ergibt. In vielen der neuen Geschäftsmodelle werden Netzwerke geknüpft, zwischen Anbieter:innen und Nachfrager:innen bei eBay oder Amazon, zwischen Freunden, Bekannten und Verwandten bei Facebook, Whatsapp oder Instagram. Der Nutzen für das Individuum ist umso größer, je größer das Netzwerk ist und so wachsen sie und wachsen und Nutzer:innen bleiben bei der Stange, selbst wenn sie die Geschäftspraktiken dieser Unternehmen nicht gutheißen. An Alternativen mangelt es nicht, so gibt es jede Menge datenschutzfreundliche soziale Netze, aber so lange die Rahmenbedingungen des unterregulierten Digitalismus zwangsläufig zu „The Winner Takes It All“ führt, haben sie keine Chance. So sehr die Anhänger:innen des Kapitalismus von der positiven Kraft des Wettbewerbs schwärmen, so wenig existiert echter Wettbewerb noch in dieser Welt.
Kraft ihrer Größe können digitale Monopole den Wettbewerb ausschalten. Dazu gibt es viele Methoden: Konkurrenten werden aufgekauft, durch ruinösen Wettbewerb in die Pleite getrieben, Talente werden weltweit von der Uni oder vom Wettbewerber abgeworben, Patente noch auf die kleinste Einheit von Innovationen erworben und mittels einer Armada von Patentanwält:innen missbraucht, um technischen Fortschritt bei Dritten zu behindern.
Alles das kostet Geld, sehr viel Geld. Aber daran mangelt es nicht, denn die Kombination von hohen Profitmargen mit einer äußerst geringen Bereitschaft, Steuern zu zahlen, verschafft den großen Digitalkonzernen das nötige Spielgeld.
Die Nebenwirkungen dieser Praxis sind enorm. Unsere Gesellschaft sieht sich konfrontiert mit Algorithmen, die zu Polarisierung und Spaltung führen, da sie die Verbreitung von Hass und Desinformation befördern, in einem Ausmaß, das demokratiegefährdend ist. Ihre Geschäftsmodelle basieren häufig auf Daten, die sie von Nutzer:innen einsammeln und an Dritte verkaufen oder in deren Auftrag ausbeuten. Sie durchleuchten und überwachen uns, sie kommerzialisieren alles, bis hin zu menschlichen Beziehungen und unserer Kommunikation. Sie erfanden die Plattformarbeit, bei der Clickworker ohne traditionell erstrittene Arbeitnehmer:innenrechte ihre Arbeitskraft verkaufen, ohne Mindestlohn, ohne Urlaubsanspruch, ohne Renten- oder Krankenversicherungsbeiträge des Arbeitgebers.
Das klingt alles nicht nur bedrohlich, das ist es auch. Es ist an der Zeit, die Digitalisierung gemeinwohlorientiert zu gestalten, denn es gibt eine Alternative zur beschriebenen Realität.
Digitaler Sozialismus – der Commonismus als Alternative
Zugegeben, ich fremdele seit dem Ende der DDR immer noch mit dem Begriff „Sozialismus“, der mir nachhaltig verbrannt erscheint. Deshalb nenne ich meine Vision einer nach linken Werten gestalteten Digitalen Gesellschaft lieber Commonismus. Aber nicht auf ihren Namen kommt es an, sondern auf ihre Gestaltungsprinzipien. Meine Vision hat mit Planwirtschaft wenig zu tun, auch nicht mit einer, die über künstliche Intelligenz auf massenhaften Daten in Realzeit eine präzisere Planung ermöglichen würde, als ich sie in den 70ern und 80ern in der DDR erlebte. Ich halte wenig von Zentralismus, ich halte viel vom Grundprinzip des Internets und das ist die Dezentralität.
In einer Welt, die uns alle miteinander vernetzt, können wir ganz ohne planende Instanzen – aber auch ohne Banken und Produzenten – einfach miteinander interagieren, nicht nur zum Kommunizieren, sondern auch zur Befriedigung von Bedürfnissen.
Solange Wachstum und Konsummaximierung dominante Zielen sind, mag der direkte Austausch von Waren und Gütern von „Peer to Peer“, also von Gleichen unter Gleichen, nur eine untergeordnete Rolle spielen, aber Klimawandel und Ressourcenknappheit zwingen uns zu einem Wertewandel. Schon deshalb kann der Kapitalismus gar nicht das bestmögliche Gesellschaftssystem sein, weil er rein rational betrachtet unser Dasein als Menschheit gefährdet. Kapitalismus basiert eben nicht nur auf der Ausbeutung von Mensch und Umwelt, sondern führt strukturell und daher unausweichlich zur Vernichtung unserer Lebensgrundlagen. Es braucht also eine andere Gesellschaftsform, die gerade nicht auf Konsummaximierung und Wachstum setzt, wenn wir alle eine Zukunft haben wollen.
Weil immer mehr Menschen das verstehen, hört Kapitalismus auf, unangreifbar zu sein. So propagieren Fridays for Future Demonstrant:innen den Slogan „System Change – not Climate Change“. Junge Leute wollen kein Auto mehr kaufen, um es zu besitzen, sie wollen Mobilität. Sie träumen von Zeitwohlstand statt von einer Karriere, der sie alles unterordnen müssten, die aber maximalen Konsum ermöglicht. Der Klimawandel als zweiter Megatrend unserer Zeit verschiebt traditionelle Werte: Nachhaltigkeit wiegt mehr als Preis, an Secondhand haftet kein Armuts-Makel mehr, Wegwerfen ist out, Upcycling, Reparieren und Recyceln ist in. Selbst in Kleinstädten gibt es Umsonst-Bücherregale, die mancherorts schon zu Umsonstläden oder –märkten wurden. Die eingebaute Obsoleszenz v.a. bei technischen Produkten stößt auf immer mehr Widerstand. Die EU arbeitet an einer „Right to Repair“ Richtlinie. Es ist selbst denen, die es sich leisten können, alle zwei Jahre ein Handy neu zu kaufen, weil das Akku schlapp macht, nicht mehr egal, dass Hersteller sie zum Konsum zwingen, auch wenn er nicht nötig wäre.
Aber was braucht es alles, um unsere Gesellschaft nach und nach so umzukrempeln, um dem Kapitalismus einen Zahn nach dem anderen zu ziehen? Denn eins ist klar, eine neue Gesellschaftsordnung wird nicht durch eine Revolution auf der Straße durchgesetzt, sie kommt ohne Heugabeln und Maschinenstürmerei aus. Wie ein Pilzmyzel wird sie sich schleichend in der Fläche verbreiten und eines Tages stärker sein als der Kapitalismus, sie wird ihn einfach ins Abseits drängen.
Worauf es ankommt: Eigentum an Infrastruktur, Produktionsmitteln und Wissen
Graswurzelbewegungen können eine Menge erreichen, aber ohne Staat werden wichtige strukturelle Veränderungen kaum oder gar nicht erreichbar sein. So muss die Infrastruktur der digitalen Gesellschaft privatwirtschaftlicher Dominanz entzogen werden. Und das bezieht sich sowohl auf die technische, als auch auf die soziale Infrastruktur. Der Zugang zum Internet muss zur Daseinsvorsorge gehören, genau wie ein Abwasseranschluss, Bildung, ÖPNV oder ein funktionierendes Gesundheitswesen. Kommerzialisierung und Daseinsvorsorge sind eine schlechte Kombination, denn Profitinteresse und Gemeinwohlorientierung sind zu oft nicht miteinander vereinbar. In Deutschland erkennen wir das am Marktversagen beim Ausbau von Glasfaserbreitband und am legendär schlechten Mobilfunknetz.
Der Ausbau von Glasfaser sollte primär dezentral und kommunal erfolgen, der Betrieb über die Stadtwerke – so macht das Schweden seit Jahrzehnten und kann auf ein schnelles, flächendeckendes und sehr preiswertes Angebot von Hochgeschwindigkeitsinternet stolz sein.
Da Stadtwerke bereits für Strom- und Abwasseranschlüsse zuständig sind, passen Glasfaseranschlüsse als weiteres „natürliches Monopol“ gut dazu, denn alle diese Anschlüsse braucht schlicht jeder Haushalt – aber eben nur einmal. Wettbewerb macht auf der Infrastrukturebene daher keinen Sinn, er muss auf der Diensteebene stattfinden. Deshalb sollte eine solche Infrastruktur der Stadtwerke auch als Open Access allen Anbietern diskriminierungsfrei zur Verfügung stehen – vom großen Netzbetreiber bis zum kleinen lokalen Internet Service Provider. Ohne Open Access kann man mit stadtwerke-getriebenem Ausbau wie in Köln oder München zwar über 75 Prozent Glasfaseranschlüsse erreichen (zum Vergleich: von 20 Großstädten kommen überhaupt nur drei über 20 Prozent), aber leider nicht die Angebotsvielfalt und die niedrigen Preise wie in Schweden.
Seit der Corona-Krise hat vielleicht auch die Bundesregierung verstanden, dass es sich nicht um ein Luxusproblem handelt, wenn weder Schulen noch die Wohnungen der Schüler:innen oder Lehrkräfte Zugang zum schnellen Netz haben.
Neben individuellen Anschlüssen braucht es WLAN in allen Gemeinden, kostenfrei und flächendeckend, gemeinwohlorientiert betrieben. Teilhabe heißt eben auch niedrigschwellig und barrierefrei Zugang zum Netz haben. Für den Staat heißt das ein radikales Umsteuern bei der Breitbandförderung, weg vom Primat für den privatwirtschaftlichen Ausbau hin zu einem Primat des Ausbaus in öffentlicher (oder genossenschaftlicher) Hand.
Die soziale Infrastruktur ist nicht weniger relevant als die technische. Hier muss staatliche Regulierung zuerst die Macht der Monopole brechen und ein ganzes Instrumentarium dafür nutzen. Steuerflucht darf es nicht mehr geben, wer in Europa Geschäfte macht, muss hier auch Steuern zahlen. Firmenaufkäufe, die die Marktmacht noch ausbauen, müssen unterbunden oder sogar rückabgewickelt werden. Dass Facebook die Unternehmen Instagram und Whatsapp kaufen durfte, zeigt, wie wenig die Anti-Monopol-Regulierung zur neuen Realität passt. Hier sind (weitere) Anpassungen überfällig. Der Lock-In-Effekt muss minimiert werden, das ist möglich durch Verpflichtung zur Interoperabilität von Netzwerken untereinander, zu offenen Standards, Schnittstellen und Protokollen.
Um Alternativen zu stärken, ist auf EU oder UN Ebene ein gemeinwohlorientiertes soziales Netzwerk aufzubauen, mit nachhaltig gesicherten öffentlichen Mitteln – etwa aus dem EU Haushalt, aber ohne staatliche Einflussnahme, denn einen Zugriff auf derartige Daten darf es auch für staatliche Stellen nicht geben und überhaupt: welcher Staat sollte das sein bei einem international angelegten Netzwerk? Entscheidend ist die Gemeinwohlorientierung. Ein solches Netzwerk darf keinerlei Profitorientierung haben, muss einzig den Interessen der Nutzer:innen verpflichtet sein, dabei transparent und offen agieren und maximale Autonomie ermöglichen. So müssen Nutzer:innen das Ranking von Inhalten nach eigenen Kriterien bestimmen können. Ein Umzug von einem Netzwerk in ein anderes muss ohne Verlust der eigenen Historie und ohne Verlust der Kontakte möglich sein. Wo Unternehmen ihre Marktmacht auf großen Datenschätzen begründen, die zu einem wesentlichen Teil durch die Nutzer:innen überhaupt erst entstanden, sind sie zu vergesellschaften. Es ist nicht einzusehen, warum die Künstliche Intelligenz von Google Translate durch die Mitarbeit unzähliger Nutzer:innen trainiert und stetig verbessert wurde, aber die Früchte ihrer Arbeit nicht allen zur Verfügung stehen soll. Es ist nicht einzusehen, warum Google seine Stauinformationen nicht mit allen teilen soll, wenn das Unternehmen sie nur deshalb hat, weil es die Daten aus Android-Handys sammelt, die auf Straßen unterwegs sind. Offenheit muss das Grundprinzip der digitalen Gesellschaft sein.
Die Demokratisierung der Produktionsmittel war noch nie einfacher als heute. Für Vieles braucht es keine großen Fabrikhallen mehr, heute kann jede:r selbst zum Produzenten werden. Technologien wie 3D Drucker oder Lasercutter finden sich heute in (fast) jedem Makerspace – offenen Werkstätten, die für den Zugang zu Produktionsmitteln das sind, was Bibliotheken für den Zugang zu Büchern sind. Makerspaces gehören in jedes Dorf und eigentlich auch in jede Schule. Dort werden nicht nur Produktionsmöglichkeiten zugänglich gemacht, sondern auch Wissen geteilt. Offenheit ist in Makerspaces schon längst das Grundprinzip. In einer Wissensgesellschaft gilt mehr denn je, dass Wissen Macht ist. Das wunderbare an Wissen ist, dass es immer mehr wird, je häufiger man es teilt.
Profitorientierte Unternehmen versuchen dagegen den Zugang zum Wissen künstlich zu beschränken, sie lobbyieren für absurde Copyright-Regelungen oder bauen Hürden durch Patente und geschlossene Lizenzen auf. Aber die größte Wissenssammlung der Welt, die Wikipedia, funktioniert ganz ohne Kapitalinteressen. Das Potenzial gemeinwohlorientierter Produktion möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen, aber zunächst auf das Märchen vom funktionierenden Markt eingehen.
Die „unsichtbare Hand“ des Marktes ist eine schlechte Prothese
Angebot und Nachfrage regeln die Befriedigung von Bedürfnissen im Kapitalismus, eine „unsichtbare Hand“ dreht so lange an beiden Stellschrauben, bis es ein Gleichgewicht gibt. Für den Ausgleich sorgt der Preis, der bei höherer Nachfrage und knappem Angebot so lange steigt, bis es eben nur noch so viel Nachfrage gibt, wie auch befriedigt werden kann. So habe ich das mal im BWL Studium gelernt und jeder, der mit offenen Augen durch die Welt geht, weiß, dass dieses Gleichgewicht öfter gestört ist, als es funktioniert und dass selbst da, wo sich ein derartiges Gleichgewicht einstellt, es nichts mit einer funktionierenden Bedürfnisbefriedigung zu tun hat.
So werden ständig Millionen Tonnen produzierter Güter vernichtet, weil es keine Nachfrage dafür gibt, jedenfalls nicht für den erwünschten Verkaufspreis. Eine Abgabe als Spende rechnet sich weniger, als die Vernichtung. Das ist Ressourcenverschwendung und ein strukturelles Problem im Kapitalismus.
Beim Glasfaserausbau behaupten große Telco-Anbieter immer wieder, die Kunden würden schnelle Internetanschlüsse nicht ausreichend nachfragen und wenn die Nachfrage zu niedrig ist (Vertragsrate unter 40% der angeschlossenen Haushalte), dann lohne sich der Ausbau nicht. Glaubt im Ernst irgendjemand, dass es 60+% Haushalte gibt, die keinen Glasfaseranschluss mit schnellem Internet nutzen wollen, weil sie kein Bedürfnis danach haben? Sie schließen keine Verträge ab, weil die Unternehmen Mondpreise dafür verlangen und dann den schleppenden Ausbau der mangelnden Nachfrage – also den Konsument:innen in die Schuhe schieben können. In Schweden gibt es seit Jahren Internetanschlüsse, die selbst bei 1GB/s Download- und Uploadgeschwindigkeit nicht teurer als 25Euro sind. Einen 10GB/s Anschluss konnte man in Schweden schon 2018 für weniger als 50Euro bekommen. Da dürfte das Angebot nicht nur die Nachfrage, sondern auch die Bedürfnisse befriedigen. Als der Digitalausschuss des Bundestages 2018 nach Schweden reiste, zeigte man uns eine Karte des Landes, die fast vollständig grün ausgemalt war. Grün stand für Breitbandanschlüsse mit 1GB/s Geschwindigkeit – 90 Prozent der schwedischen Bevölkerung hatten solche Zugänge. In Deutschland sind Glasfaseranschlüsse immer noch im einstelligen Prozentbereich und das vorhandene Angebot wird nicht einmal voll ausgenutzt. Kein Wunder, denn hier werden selbst für ein Zehntel der schwedischen Durchschnittsgeschwindigkeit höhere Preise verlangt.
Schneller als der Markt – Bedürfnisbefriedigung in der Corona-Krise
Das Marktversagen konnte man auch bei Ausbruch der Corona-Krise beobachten. Digitale Bildung oder Home Office scheiterten oft an mangelndem Zugang zur Infrastruktur. Auch Schutzausrüstung fehlte aller Orten. Überall wurden Zehntausende von Mundnasemasken privat genäht. In Brandenburg wurde das gemeinnützige Netzwerk offener Werkstätten aktiv und begann Gesichtsvisiere herzustellen. Weltweit wurden Anleitungen und Druckdateien ausgetauscht und ständig weiterverbessert, die es jedem ermöglichten, solche Schutzvisiere herzustellen. Auch der Markt hatte schnell Lösungen parat, für die der Preis die hohe Nachfrage bei knappem Angebot regelte, mit anderen Worten, es gab Gesichtsvisiere für völlig überzogene Preise, die mitten in einer Pandemie verhinderten, dass die tatsächlichen und dringenden Bedürfnisse nach Schutzausrüstungen in medizinischen und pflegerischen Einrichtungen befriedigt werden konnten.
Zum Netzwerk offener Werkstätten gehört auch der „Verstehbahnhof“ in Fürstenberg/Havel, im Norden von Brandenburg. Dieser Makerspace für Kinder und Jugendliche, der sie für ein selbstbestimmtes Leben im digitalen Zeitalter befähigt, wurde quasi über Nacht zur Produktionsstätte. Mehr als 10.000 Gesichtsvisiere haben innerhalb weniger Wochen den Verstehbahnhof verlassen: zuerst hergestellt von Freiwilligen an demokratisierten Produktionsmitteln, später in Kooperation mit hilfsbereiten KMU und das alles auf der Basis von weltweit nicht kommerziell geteiltem Wissen. Schneller als durch den Markt wurden so in mehreren Landkreisen und Bundesländern Löcher in der Versorgung gestopft. Als die Schulen dringend Bildungsserver und Videokonferenzsysteme benötigten, war der Verstehbahnhof genauso zur Stelle, denn sein Trägerverein hatte auch Zugriff auf mehrere Serverschränke, deren Kapazitäten für gemeinnützige Zwecke zur Verfügung standen. Und als Kinder ohne elektronische Geräte vom Distanzlernen ausgeschlossen waren, organisierte der Verstehbahnhof Laptops für die Kinder, lange bevor der Corona-Soforthilfe-Fonds für die subventionierte Beschaffung von Leihgeräten für arme Kinder seine ersten Schlagzeilen bekam. Nur der Internetzugang für alle ließ sich nicht so schnell umsetzen, aber der Plan steht: in den nächsten 18 Monaten soll der kleine Ort durch den gemeinnützigen Verein ein flächendeckendes, kostenfreies WLAN erhalten. Das ist Infrastruktursozialismus – oder auch Commonismus – wo Technologie, das Wissen darum und der Zugang dazu als Gemeingut behandelt werden. Diese Kombination ist mächtig und kapitalistische Interessensvertreter:innen können nichts gegen ihre Wirksamkeit ausrichten.
Links heißt künftig: Open Everything!
Weltweit wächst die Bereitschaft, Wissen und Technologie zugänglicher zu machen. Open everything ist die Devise. Offenheit als Kernprinzip der neuen Gesellschaftsform findet sich in Open Educational Ressources, in Open Data, in offenem Zugang zu wissenschaftlicher Forschung (Open Access), auf Wikipedia wie bei Thingiverse, dem Universum der Dinge, einer Plattform, auf der sich frei verwendbare 2D und 3D-Modelle für alle möglichen Dinge finden, die sich mit einem 3D Drucker oder mit Lasercutter herstellen lassen. Ob offene Lizenzen, Open Source, Open Hardware oder offene Patente für Herstellungsprozesse, Technologien oder neue Kartoffelsorten – sie alle machen Wissen für immer und für jeden frei verfügbar. Kein noch so reicher Kapitalist kann ein solches Wissen der Welt wieder entziehen, es gehört für immer der Menschheit, es wird Teil des globalen Gemeinguts.
Das ist die mächtigste Waffe des Commonismus, gegen die kein Reichtum und kein Monopolist etwas ausrichten kann, denn wenn ein einziger Mensch sich dafür entscheidet, seine Erfindung oder sein Wissen mit einer offenen Lizenz oder einem offenen Patent der Welt zu schenken, kann die gleiche Erfindung nie wieder von jemand anderem in einen Tresor gesteckt und nur für viel Geld zugänglich gemacht werden. Das klingt nach wenig, aber in einer Gesellschaft, die immer mehr zur Wissensgesellschaft wird, in der immer mehr Menschen kein Interesse an der Kommerzialisierung ihres Alltags haben, in der bedrohliche Krisen uns zur Kooperation zwingen werden, da wird das Prinzip des vergesellschafteten Wissens zum Sargnagel für den Kapitalismus.