Als vor 30 Jahren Ost- und Westdeutschland wiedervereinigt wurden, waren die Erwartungen und Hoffnungen so groß, wie die blumigen Versprechen. Viele positive Veränderungen sind auch eingetreten und ich habe selbst davon profitiert – ohne Mauerfall hätte ich nicht in England studieren, nicht viele fremde Länder besuchen, nie meinen Ehemann treffen können. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass es nach der Wende einen unbeschreiblichen Niedergang der ostdeutschen Industrie gab, mit verheerenden Folgen in fast jede Familie hinein. Die noch traurigere Wahrheit ist aber, dass die Nachwirkungen auch heute, 30 Jahre später noch anhalten.
Den Stand der Gleichberechtigung, den Frauen bis zur Wende in der DDR genossen, haben wir fast ein Drittel Jahrhundert später immer noch nicht wieder erreicht – selbst im katholischen Irland genießen Frauen inzwischen mehr Selbstbestimmungsrechte über ihren Körper, als in Deutschland, wo es sogar strafbar ist, wenn Frauenärzte auf ihren Websiten erwähnen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornehmen.
Immer noch verdienen Menschen in Ostdeutschland weniger, obwohl sie mehr arbeiten! Gregor Gysi sprach in einer Rede zum Thema davon, dass ein Durchschnitts-Ossi im Jahr 38 Tage mehr arbeiten müsste, um den Lohn eines Durchschnitts-Wessis zu erhalten. Mehr als ein Drittel der Beschäftigten arbeiten im Osten für weniger als 12 Euro Stundenlohn, gesamtdeutsch ist ein Viertel der Menschen betroffen. Auch für Fachkräfte und bestehende Tarifverträge im Osten gilt: Hier wird länger und für weniger Geld gearbeitet als am vergleichbaren Arbeitsplatz im Westen. Arbeit im Osten wird ganz pauschal schlechter bezahlt, ganz egal, ob man in einer Region mit hohen oder niedrigen Lebenshaltungskosten wohnt. Da auch heute noch ein Ost-Rentenpunkt weniger Wert ist, als ein West-Rentenpunkt, gibt es nicht nur heute keine Angleichung der Renten, sondern auch noch in den nächsten Jahrzehnten, denn wenn ein heute erarbeiteter Rentenpunkt im Osten weniger Wert ist, wirkt sich das bei 20-Jährigen noch auf ihre Rente in über 40 Jahren aus.
Auch in der Erinnerungskultur Gesamtdeutschlands spielt der Osten fast nur dann eine Rolle, wenn es um Wende-Jahrestage oder Diktaturerzählungen geht. Wann immer es historische Bezüge irgendwo gibt, wird Westdeutschland als deutsche Geschichtsreferenz verwendet, der Osten wird aus der Erinnerung gelöscht, als hätte es ihn nie gegeben, oder er sei kein Teil gesamtdeutscher Geschichte, oder er sei nicht wichtig und irrelevant. So wird immer wieder erwähnt, dass in Deutschland Ehemännern ihren Frauen bis 1978 die Aufnahme einer Arbeit verbieten durften – ohne jeden Hinweis darauf, dass es derart rückständige Gesetze nur im Westen Deutschlands gab. Wenn Ostdeutsche ständig solche Beispiele in Medien mitbekommen oder in politischen Reden hören, dann fragen sie sich zu Recht, ob ihre Erfahrungen und Geschichte keine Rolle spielen und warum das so ist. Es verfestigt sich der Eindruck, dass Ostdeutsche Bürger 2. Klasse sind, ein Ausdruck, den im Übrigen Angela Merkel in ihrer Rede zum 29. Jahrestag der Deutschen Einheit verwendete – und leider zu Recht.
Inakzeptabel ist auch der Umstand, dass Ostdeutsche sich kaum in den Eliten wiederfinden, die von Politik über Wissenschaft und Justiz bis Wirtschaft oder Militär wichtige Entscheidungen treffen. Gesamtdeutsch sind sie weniger als 2 Prozent vertreten, aber selbst in Ostdeutschland machen sie nur ca. ein Drittel der Top-Führungspositionen aus, seit 2004 sinken diese Zahlen, anstatt endlich auf ein angemessenes Maß zu steigen. Es gibt sogar Bereiche, wo Ostdeutsche überhaupt fast gar nicht repräsentiert sind, so hat kaum eine der 81 öffentlich-rechtlichen Hochschulen eine:n Rektor:in aus dem Osten. Wie will man so verhindern, dass sich Ostdeutsche ohnmächtig fühlen und von Westdeutschen fremdbestimmt? Könnte man sich in Bayern vorstellen, querbeet 70% Top-Führungskräfte aus Niedersachsen, Hessen oder Sachsen zu akzeptieren? Natürlich nicht, aber das ist die Lebensrealität in ganz Ostdeutschland.
Aus all diesen Gründen hat die Linksfraktion einen Antrag vorgelegt, der die bestehenden Ungleichheiten der Wiedervereinigung reduzieren soll und ostdeutsche Erfahrungen und Lebenswirklichkeiten endlich ernst nimmt.
Dabei ist die Gleichheit der Lebensverhältnisse in Ost und West kein blauäugiger Wunsch, sondern eine im Grundgesetz verankerte Verpflichtung. Notwendig für die Angleichung sind dabei unter anderem ein gesetzlicher Mindestlohn von 12 Euro und der Verzicht der Tarifparteien auf unterschiedliche Tarifabschlüsse für Ost und West. Zudem muss eine Rentenreform dafür sorgen, die Rentenungleichheit zwischen Ost und West endlich zu beenden und mit der gesetzlichen Rente einen Lebensstandard zu ermöglichen, der vor Armut bewahrt. Etwa 40% aller Renter:innen im Osten müssen mit weniger als 1000 Euro im Monat leben, obwohl sie oft 40 Jahre oder mehr gearbeitet haben.
Es gibt also auch 30 Jahre nach der Wende noch einiges zu tun, um ein geeintes Deutschland zu schaffen. Der Zusammenhalt einer Gesellschaft besteht nämlich nicht allein aus geeinten Flächen auf einer Landkarte, sondern aus gleichwertigen Chancen, Lebensverhältnissen und dem Respekt vor allen Erfahrungen, die die Menschen in unserem Land erlebt haben.