Seit drei Wochen gehen in Chile hunderttausende Menschen auf die Straße, um gegen soziale Missstände im Land zu demonstrieren. Unter den Demonstrierenden sind viele Tausend Mapuche, indigene Einwohner Chiles. Mit Protestaktionen lenken Aktivist*innen die Aufmerksamkeit auch auf die fehlende Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit des Landes.
Ich hatte Jorge Huichalaf Díaz, einen Mapuche Aktivisten, bei einer Reise mit der Parlamentariergruppe Conosur (Argentinien, Chile, Uruguay u Paraguay) nach Chile im April kennengelernt. Als die aktuellen Sozialproteste in Chile ausbrachen, war er gerade bei einer Konferenz in Deutschland. Er kontaktierte mich vor ein paar Tagen mit einem Hilferuf per Email.
Denn bei den Demonstrationen kam es zu massiven Menschenrechtsverletzungen durch die eingesetzten Sicherheitskräfte. Innerhalb von drei Wochen wurden mindestens 20 Demonstrant*innen getötet. Es wurden 150 Fälle von Folter gemeldet und sexualisierte Gewalt durch Polizisten. Mehr als 4000 Menschen wurden festgenommen, 1600 verletzt, über 160 erlitten schwere Augenverletzungen durch Gummigeschosse.
Jorge macht sich Sorgen um sein Land, sein Volk der Mapuche und um seine Familie. Seine Tochter wurde bereits bedroht. Sein Sohn, der im Rollstuhl sitzt, wurde in den letzten Tagen von einem Wasserwerfer gezielt beschossen. Der Vorsitzende der Parlamentariergruppe Conosur lehnte ein offizielles Treffen leider ab. Also empfing ich ihn allein, begleitet von einer Unterstützerin aus Brandenburg.
Jorge erzählte erst von der Geschichte der Mapuche, vom Widerstand gegen Inca und Spanier. Wegen ihrer dezentralen Struktur konnten sie den kolonialisierenden Mächten lange Widerstehen.
Erst im 19. Jahrhundert haben Westeuropäer es mit Waffen geschafft, das Land der Mapuche zu erobern, es folgten Vertreibung, Unterdrückung, Ausbeutung, Zwangsbesiedlung durch Siedler, denen Land und Geld als Anreiz geboten wurde. Auch aus Deutschland kamen viele. Darauf folgte die Unterdrückung und weitere Enteignung der Mapuche während der Pinochet Militärdiktatur und ihre bis heute wirkenden Folgen.
Zur Wiedergewinnung ihrer Autonomie gründeten Jorge und andere Mapuche eine Kooperative, die zunächst eine Bank war, die Mikrokredite vergibt. Der Name der Kooperative Küme Mogen heißt übersetzt “Gutes Leben”, denn es geht nicht nur um Geld, sondern um eine konkrete Verbesserung der Lebensbedingungen von Mapuche. Küme Mogen hilft deshalb inzwischen auch in sozialen Notlagen, zum Beispiel wenn Familien in Not geraten, weil Angehörige aufgrund ihres Engagements inhaftiert wurden, organisiert Sprachkurse in Mapudungun und vertritt öffentliche Forderungen, wie den Abzug des Militärs aus Wallmapu, die Rückgabe des besetzten Landes und Autonomie für die Volksgruppe der Mapuche.
Natürlich waren auch die aktuellen Proteste in unseren Gesprächen ein Thema.
Vergangene Woche sprach ich auch im ARD-Morgenmagazin als Vizevorsitzende der Parlamentariergruppe Conosur über die sozialen Proteste in Chile und ihre Ursachen. Jede*r 3. Berschäftigte in Chile hat nur einen befristeten Arbeitsvertrag, viele sind sehr schlecht bezahlt. Aber weil Pinochet alles privatisierte (Gesundheit, Rente, Bildung, Wasser, Strom…) ist das Leben sehr teuer. Jede Krankheit kann schon Armut bedeuten. Von 18 Millionen Einwohner*innen sind 11 Millionen verschuldet. Chile hat das höchste durchschnittliche pro Kopf Einkommen Lateinamerikas, aber auch die höchste Ungleichverteilung von Vermögen in der OECD. Den ärmeren 50% der Bevölkerung gehören nur 2% des Vermögens. Diese soziale Spaltung ist eine Spätfolge der neoliberalen Militärdiktatur. Selbst die Verfassung stammt noch von Pinochet. Das alles sind die Gründe für die Proteste, nicht die Erhöhung der U-Bahnpreise, die sie auslösten, als letzter Tropfen, der das Fass überlaufen ließ.
Über 1,2 Millionen Menschen marschierten am 25. Oktober durch Santiago de Chile, mehr als jemals zuvor und forderten umfassende soziale Reformen, eine neue Verfassung und den Rücktritt des Präsidenten Piñera. Die Kabinettsumbildung (er hat ein paar Minister abegsetzt, ein paar nur umbesetzt und ein paar jüngere und liberalere rein geholt) und die geplante Erhöhung der Mindestrente, des Mindestlohnes sowie die Zurücknahme der angekündigten Preiserhöhung für die Metro reichen ihnen nicht. Piñera ist Milliardär (ca. 2,7 Mrd.), es ist also kein Wunder, dass er die Nöte des Volkes nicht versteht.